Anna Altmann, Foto: H. Maimann (Hg.): Die ersten 100 Jahre. Wien 1988, S. 48

Anna Altmann: Jugendgeschichte einer Fabrikarbeiterin

zitiert aus: Aus dem Leben eines Proletarierkindes. In: Buch der Jugend. Für die Kinder des Proletariats herausgegeben von Emma Adler. Berlin (Verlag Vorwärts) 1895, S. 186-191 

Wie die Autorin mitteilt, hat sie ihren hier vollständig abgedruckten proletarischen Lebenslauf einer wohlhabenden Mitreisenden während der Eisenbahnfahrt erzählt und sie damit nachdenklich gestimmt.

„Ich wurde im Jahre 1851 an einem Novembertage in der Stadt L. geboren. Meine Eltern waren arm, doch schien mir das Glück hold zu sein, denn schon als zweijähriges Kind machte ich die erste Wasserpartie. Ich fiel nämlich ins Wasser und wurde durch die Mutter, welche zufällig dazu kam, gerettet. Wenn ich damals ertrunken wäre – ich hätte nichts eingebüßt. Als dreijähriges Mädchen wurde ich reiselustig.

Damals schickte man mich zum Nachbar, um eine Semmel zu holen. Unglücklicher Weise kam ich bis ins Nachbarstädtchen N., welches ungefähr zwei Stunden von L. entfernt ist. Da ich noch nicht viel sprechen konnte, fragte man mich vergebens nach meinem Namen. Meine Eltern suchten mich einen Tag und eine Nacht, bis sie mich fanden und die kleine Ausreißerin mit Freudentränen wieder heimbrachten.

Die goldene Kinderzeit eilt mit Windesflügeln dahin. Auch ich musste diese Erfahrung machen, denn als ich fünfeinhalb Jahre zählte, da war es mit der guten Zeit vorbei. Von da an musste ich schon etwas mit verdienen [ … ] Ich ging also in die Fabrik, wo ich anfangs dreißig Kreuzer in der Woche bekam. Als ich die Arbeit ordentlich erlernt hatte, bekam ich wöchentlich vierzig Kreuzer. Oft habe ich mehr Püffe bekommen, als der Lohn eines Tages in Kreuzern zerlegt ausmachte, denn die Herren Kattundrucker hatten damals das Privilegium, sie konnten schlagen, soviel sie wollten, Niemand hat sich drum gekümmert. Die Arbeitszeit dauerte im Sommer von sechs Uhr früh bis sieben Uhr Abends mit einer Stunde Mittagspause.

Als ich sechs Jahre alt war, musste ich auch in die Schule gehen. Von halb acht bis neun Uhr Abends. Im Winter hatten wir es bedeutend besser, denn da arbeiteten wir nur von sieben Uhr früh bis fünf Uhr Abends. Nur zu oft kam es vor, dass wir bei dem Lampenlicht nicht die Augen öffnen konnten, da die scharfen Farben das sogenannte Augenbeißen verursachten. Trotz alledem lernte ich so gut ich konnte. Der Lehrer sagte oft zu mir: ‚Um Dich ist es grad schade, Du solltest bessere Schulen besuchen können, Du hast gute Anlage zum Lernen.‘ Ich war auch bei den Prüfungen immer eine der ersten; es war aber keine große Kunst dabei, denn wir hatten ja nur die Fibel und ein kleines Lesebuch. Dazu hatten wir jede Woche zwei Mal Religionsunterricht, und ich passte genau auf das auf, was der Herr Katechet sagte, denn er war, wie er oft sagte, ein Diener Christi, und ich gab mir alle Mühe, unter seine guten Schäflein gezählt zu werden.

Wenn wir aber aus der Schule nach Hause gingen, da war es aus mit den guten Schäflein. Die feinen Leute wichen uns aus, denn unseren Kleidern, welchen der Farbengeruch anhaftete, entströmte kein Parfum. Da hieß es denn: ‚Die Streicherpudel kommen‘. Wenn wir’s hörten, gaben wir natürlich auch keine Schmeichelnamen zurück. So wurden wir, statt dass man Mitleid mit uns gefühlt hätte, recht verhasst, und dadurch ließen wir uns zu neuen dummen Streichen hinreißen, wofür wir den anderen Tag in der Schule bestraft wurden.

Sonntag früh hieß es, in die Kirche gehen, sonst hätten wir ja eine Sünde begangen. Nachmittags mussten wir in die Strickschule wandern, damit wir unsere Strümpfe stricken lernten, mehr konnten wir in weiblicher Handarbeit nicht unterrichtet werden, denn die Zeit war zu kurz. Diese Art der Schulführung war danach angetan, unsere Mußestunden zu dezimieren.

Dass wir Kinder in fortwährender Tätigkeit erhalten wurden, schien sehr fürsorglich, denn ein altes Sprichwort sagt: ‚Arbeit macht stark und groß‘, und stark und groß sollten wir ja werden, das forderte man vor allen Dingen. Das sahen wir am Besten, wenn wir unseren Arbeitsplatz wechselten; da mussten wir uns erst mustern lassen, ob wir auch im Stande wären, siebzig Kreuzer wöchentlich zu verdienen.

Als ich das zwölfte Jahr zurückgelegt hatte und meine Schulzeit so zu Ende war, sagte ich auch der Streichkunst Valet, um mich einer anderen Beschäftigung zu widmen. Ich ging in eine Flachsspinnerei, welche damals gerade in Betrieb kam. Da mussten wir von früh fünf Uhr bis Abends sieben und acht Uhr ohne Mittagspause arbeiten. Dafür bekam ich auch fünfundzwanzig Kreuzer täglich; später wurde es besser, ich erhielt siebenundzwanzig, ja sogar dreißig Kreuzer. Als ich im Akkord zu arbeiten begann, hatte ich vierzig bis fünfundvierzig Kreuzer. Der Lohn war aber nicht gleich; es waren auch fremde Mädchen da, welche uns die Arbeit lehren mussten. Diese erhielten bedeutend höhere Löhne als wir. Wir ließen uns dies gefallen, solange wir noch keine Fertigkeit besaßen. Als wir aber dieselbe Arbeit verrichteten, und jeden Lohntag zwei bis drei Gulden weniger bekamen, da war es uns nicht mehr recht. Wir gingen daher zum Fabrikanten und ersuchten ihn, uns denselben Lohn zu zahlen, wie den anderen Mädchen. Doch da kamen wir vor den Unrechten. ‚Ihr v…, Ihr könnt froh sein, dass Ihr überhaupt Arbeit habt, so viel Lohn bekommt Ihr nicht, Ihr seid ja zu Hause.‘ Als ob wir da weniger gebraucht hätten, als ob unsere Eltern in L. etwas billiger bekommen hätten! Wir beschlossen, nicht weiter zu arbeiten! Wir waren noch Kinder und von einer Organisation oder einer Bewegung unter den Arbeitern war in L. noch keine Rede. Am nächsten Montag stellten wir unsere Maschinen ab und wollten die Fabrik verlassen. Es wäre auch alles gut gegangen, wenn uns nur der Fabrikant nicht in den Weg gelaufen wäre. Als die Arbeiterinnen den ‚Herrn‘ sahen, und als uns derselbe mit seinen Lieblingsausdrücken wie ‚Gesindel, Bagage‘ etc. begrüßte, da entfiel den meisten der Mut, und viel schneller als sie den Saal verlassen, kehrten sie unter dem Gelächter der übrigen Arbeiterinnen zurück. Nur drei blieben wir draußen. Wir wurden denn auch als Rädelsführerinnen betrachtet und entlassen.

Nun versuchte ich es, in den ‚Dienst‘ zu gehen. Da ich noch schwach war, musste ich mit wenig Lohn vorlieb nehmen. Nach einigen Jahren fragte ich wieder in der Spinnfabrik um Arbeit an, und da man die Streikgeschichte schon vergessen hatte, wurde ich wieder aufgenommen. Ich arbeitete ruhig ein halbes Jahr, ohne den geringsten Anstoß zu erregen. Zu dieser Zeit wurde in Wien der ‚Volkswille‘ herausgegeben, eine Arbeiterzeitung. Mein Vater hielt das Blatt, und ich las es. Ich fing nun an zu denken. Bisher hatte ich es immer für eine Fügung Gottes betrachtet, dass wir nur dazu da seien, um zu leiden, wofür uns im jenseits große Freuden erwarten. Ich kam zu dem Schlusse, dass es denn doch nicht gerecht sei, wenn die große Masse des Volkes am Hungertuche nagt und frühzeitig elend in die Grube fährt, während einige Tausend schon hier auf Erden in Saus und Braus leben.

Das Blatt, durch welches mir die Augen geöffnet wurden, wollte ich auch meine Mitarbeiterinnen gerne lesen lassen. Damit es nicht auffällig werde, wickelte ich mir mein Vesperbrot hinein, und dann ging das Blatt von Hand zu Hand. Anfangs ging die Sache gut, aber einmal bekam der Aufseher den ‚Volkswille‘ zu Gesicht und brachte bald heraus, wem er gehörte. Da meinte er, ich sollte meine Zeit besser ausnützen als mit dem Lesen solcher Blätter, welche den Leuten die Köpfe verdrehen und sonst nichts wert seien. Gereizt erwiderte ich ihm, er solle es nur nicht lesen, denn es wäre um seinen Kopf schade, wenn er eine andere Richtung bekäme.

Von dieser Zeit an suchte er immer eine Gelegenheit, mir etwas am Zeuge zu flicken. Eines Tages teilte er mir mit, dass ich einen Gulden Strafe habe. In dieser Fabrik war das Einheben von Strafgeldern in der Höhe von fünfzig Kreuzern an der Tagesordnung, ohne dass jemand wusste, wohin das Geld eigentlich komme. Ich sollte nun einen Gulden zahlen, weil meine Arbeit schlecht sei. Ich wies nach, dass dies nicht der Fall sei; allein das nützte nichts. ‚Gut‘, sagte ich, ‚ich zahle das Geld, aber nur unter der Bedingung, dass Sie mir sagen, wohin die Strafgelder kommen‘. Als er meinte, dies kümmere mich nichts, erwiderte ich kurz: ‚Dann zahle ich auch nichts.‘ Kurz, wir kamen hart an einander, bis er zum ‚Herrn‘ ging und mich verklatschte. Was er alles sagte, habe ich erst später erfahren. Der Fabrikant ließ mich rufen, gab mir mein Arbeitsbuch und den rückständigen Lohn und sagte, ich sei entlassen

Aber diesmal ging’s nicht so schnell wie das erste Mal, denn wenn ich auch noch zu drei Vierteilen dumm war, so forderte doch das eine gescheite Viertel seine Rechte. Ich machte den Fabrikanten auf die Fabrikordnung aufmerksam, nach welcher ich bei plötzlicher Entlassung den Lohn für vierzehn Tage erhalten müsste. Es nützte nichts; ich ging nun zum Bürgermeister, erzählte ihm den ganzen Hergang und ersuchte ihn, mir zu meinem Rechte zu verhelfen. Ich erhielt den Bescheid, in zwei Stunden wieder zu kommen, der Herr Bürgermeister wolle sich informieren. Als ich kam, hatte der Stadtrat die Sache übernommen. Der Herr, welcher die Angelegenheit zu erledigen hatte, war auch Kohlenhändler und mein gewesener Arbeits’geber‘ seine gute Kundschaft.

Der Herr Rat sagte mir, ich sollte nur schön ruhig sein und ja nichts mehr darüber reden, sonst könnte ich noch eingesperrt werden, da ich die Leute aufreize, verbotene Blätter in die Fabrik mitbringe und als Aufwieglerin bekannt sei. Ich erwiderte ihm, er möge mir erst beweisen, dass ich die Leute aufreize, und wenn ich mein Brot in eine Zeitung wickle, und diese dann von mir weggeworfen, von anderen gelesen werde, so kümmere das Niemanden etwas; die Zeitung sei auch nicht verboten, denn der Vater erhalte sie unter Schleife.

Ich konnte mich mit dem Herrn Stadtrat nicht verständigen und so beschloss er, beide Beteiligten vorzuladen. Vierzehn Tage später tagte so etwas wie eine Verhandlung, aber wir konnten wieder nicht einig werden, obwohl mir der Herr Rat und Kohlenhändler wieder riet, ich solle die Sache beruhen lassen. Ich wanderte zur Bezirkshauptmannschaft, aber ,auch hier wollte es anfangs nicht gehen. Mittlerweile wollte sich der Herr Fabrikant herbeilassen und ‚aus Gnade‘ den Lohn für eine Woche bezahlen. Ich erklärte ihm entschieden, dass ich auf die Gnade verzichte und mein gutes Recht fordere.

Nun wurde wieder eine geraume Zeit ‚Rat gepflogen‘. Ungefähr fünf Wochen mochten vergangen sein, und ich hatte noch immer keine Vorladung erhalten. Indessen war mein Vater Obmann des seit einiger Zeit in L. gegründeten Arbeiterbildungsvereins geworden und bei Überreichung einer Versammlungsanzeige erkundigte er sich, wie meine Sache denn stehe. Da wurde ihm gesagt, die Geschichte sei schon lange erledigt, ich hätte mich ja in Güte ausgeglichen. Mein Vater setzte nun auseinander, dass dies unwahr sei, und stellte weitere Schritte in Aussicht. Und schon am nächsten Tag brachte mir ein Polizist das Geld in die Stube …

Seitdem sind Jahre vergangen, und ich habe diese Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ich suchte das, was die Gesellschaft an mir vernachlässigte, nachzuholen. Ich schloss mich Arbeitervereinen an und las wissenschaftliche Bücher. So kam die Zeit, wo ich mich verehelichte. Ich hatte einen Lebensgefährten gefunden, welcher im schweren Kampf ums Dasein meine Stütze bilden sollte. Wenn auch die Not und das Elend, diese täglichen Gäste der Proletarier, manches Mal den häuslichen Frieden verscheuchten, so haben wir uns doch immer so schlecht und recht durchgeschlagen, und da auch mein Mann bestrebt ist, für das Wohl der Gesamtheit einzutreten, arbeiten wir gemeinschaftlich an der Aufklärung unserer Leidensgenossen. ja, ich gehöre zu diesen ‚Aufhetzern‘, das heißt, ich suche Wissen und Aufklärung unter die Proletarier zu tragen, die gleich mir von der Gesellschaft als Stiefkinder behandelt werden.“